Poetisches Pathos zwischen Traum und Wirklichkeit

All about „Marianne“ („Marianne de ma jeunesse“). Demnächst großes Michael-Verhoeven-Interview zum Hintergrund des Films.




Von Marc Hairapetian
“Nur die sind meine Feinde, die meinen Freunden etwas zuleide tun.”

Am 25. Juli 2003 gelangte im Rahmen einer kleinen Michael-Verhoeven-Reihe im Berliner Arsenal-Kino eine rare kinematografische Kostbarkeit zur Wiederaufführung: „Marianne, meine Jugendliebe“ („Marianne de ma jeunesse“). Julien Duviviers 1954 entstandenes poetisches Meisterwerk verbindet in eleganter Manier die Genres Märchen-, Liebes-, Geister-, Teenager- und Tierfilm miteinander. Die Internatsgeschichte handelt vom Aufkeimen der Sexualität und der Suche nach der wahren Liebe. In gewisser Hinsicht eine Art Vorläufer vom „Club der toten Dichter“ („Dead Poets Society“).
Die viel zu früh verstorbene Marianne Hold ist in der Titelrolle zu sehen. Es war ihr erster Film, den sie mit unvergleichlichem Liebreiz erfüllt. Ihr verfallen ist in schwärmerischer Liebe Horst Buchholz. Sein Vincent Lorringer ist ein „Reisender vom Ende der Welt“ deutscher Herkunft, der von der durch Pferdegetrampel bebenden Pampa in Rosario ins verträumte Städtchen Heiligenstadt kommt. Seine Schulkameraden nennen ihn deshalb nur den „Argentinier“. Er ist anders als die anderen. Souveräner, aber auch sensitiver. Seine besten Freunde sind die Tiere des Waldes und der vom achtjährigen Michael Ande (später Jim Hawkins im ZDF-Vierteiler „Die Schatzinsel“) verkörperte jüngste Internat-Zögling Klein-Felix. Die Bande der „Grausamen“ um ihren Hauptmann Alexis (der damals 15jährige Michael Verhoeven) unternimmt eines Tages einen Ausflug zur anderen Seeseite, wo Buchholz in dem gerüchteumrankten Schloss des alten Freiherrn die zugleich hinreißende und geheimnisvolle Marianne kennen- und lieben lernt.
Doch da ist noch Liselotte (Isabelle Pia), eine Verwandte des Internatleiters (Friedrich Domin): Eine schwindsüchtige Erscheinung, die Vincent in hoffnungsloser, ja kranker Begierde zugetan ist. Sie zieht sich während eines furchtbaren Sturms nackt vor ihm aus (für die damalige Zeit eine sehr gewagte Szene), doch Vincent verschmäht sie, weil er nur von Marianne beseelt ist. Lange Zeit erscheint einem Liselotte als tragische Figur, bis sie aus enttäuschter Liebe Vincents zahmes Reh erdrosselt. Der Zuschauer wird sie nun hassen, doch ihr (Film-)Leben währt ohnehin nicht mehr lange: Die Tiere der Umgebung versammeln sich auf einer Lichtung und trampeln sie nieder.
Ein Film wie ein Gedicht – ganz dem Pathos und Symbolismus verpflichtet, allerdings auch immer wieder von leiser Ironie durchbrochen. Man fühlt sich ein wenig in Heinrich Heines von Oskar Werner einfühlsam rezitiertes Poem „Ich hab in meinen Jugendtagen“ aus der „Waldeinsamkeit“ versetzt. „Marianne“ hat nicht nur starke schwarzweiß Bilder (Kamera: Leonce Henri Burel, Eugen Schüftan und George Krause), sondern auch große Sätze: „Nur die sind meine Feinde, die meinen Freunden etwas zuleide tun.“, lautet das Credo von Buchholz` Vincent. Seine Erzählungen von Marianne, denen seine Kameraden Jan (Peter Vogel) und Manfred (Udo Vioff, der übrigens von Paul-Edwin Roth synchronisiert wurde) gebannt lauschen, werden nur in Rückblenden erzählt, so dass der Betrachter nicht weiß, ob alles nicht vielleicht doch seiner überbordenden Fantasie entstammt. Gibt es „Marianne aus meiner Jugend“ wirklich, oder ist sie „nur“ ein Synonym für die große, reine Liebe? Ist sie, wenn sie nicht nur als pubertärer Wunschtraum existiert, durch eine lange zurückliegende grausame Herzensenttäuschung gar geistig verwirrt? Oder wird sie vielmehr vom Freiherrn wie eine schöne Sklavin gefangengehalten? Regisseur Julien Duvivier, der Peter de Mendelssohn leider vergriffenen Roman „Schmerzliches Arkadien“ kongenial adaptierte, lässt dies am Ende offen.
Es ist seine filmische „Traumnovelle“, bei der die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit wie in Kubricks finaler Schnitzler-Hommage „Eyes Wide Shut“ fließend sind. Duvivier drehte den Film in zwei Fassungen - einer französischen (mit Pierre Vaneck als Vincent) und einer deutschen. In beiden Versionen hatte Marianne Hold die Hauptrolle. Der Film war damals nach seinen glanzvollen Premierenfeiern in Paris (18. März 1955) und Köln (8. April 1955) kein großer kommerzieller Erfolg beschieden. Er war zu eigenwillig und seiner Zeit formal voraus, ähnlich wie Max Ophüls’ „Lola Montez“ (1955). Dessen Sohn Marcel wiederum war bei „Marianne“ als Regieassistent für die deutschen Darsteller zuständig.
Horst Buchholz leistet als Twen in seinem Debütfilm unglaubliches. Er spielt mit vehementen Einsatz und feinem Gespür für Zwischentöne. Einerseits ist er der schwarzgelockte Ekstatiker, der wilde Tiere fängt, um sie anschließend zu domestizieren, andererseits ist er der sensible Einzelgänger, der sich von seiner Mutter nicht mehr verstanden fühlt. Es war für alle Zuschauer im Arsenal 1 ein bewegendes Wiedersehen mit dem kürzlich verstorbenen „Hotte“ Buchholz. Unter den Gästen befanden sich Filmproduzent Arthur Brauner, der ein guter Freund Buchholz` war, und der damalige Anführer der „Grausamen“ und jetzige Regisseur Michael Verhoeven („Liebe Melanie“, „Krempoli“, „Die weiße Rose“). Der Gatte von Senta Berger stellte sich dem Publikum im Anschluss an die Vorführung zum Gespräch, wobei er zum Ausdruck brachte, dass alle jugendlich Akteure – inklusive ihm selbst – in Marianne Hold verliebt gewesen wären, während man Horst Buchholz für seine intelligente Auslegung der Vincent-Rolle maßlos bewundert hätte.
Einen Tag später hatte der SPIRIT Gelegenheit, ein ausführliches Interview mit dem „elder statesman“ des deutschen Films über die Hintergrundgeschichte von „Marianne“ zu führen. Lesen Sie hier demnächst das Interview mit Michael Verhoeven.

Marc Hairapetian

Michael Verhoeven