"Sex ist inzwischen meine einzige Droge"

60 Jahre und kein bisschen leise: Blondie-Star Debbie Harry im Interview

Von Marc Hairapetian

Marc Hairapetian: 60 Jahre Debbie Harry - Zeit für ein Resümee? Debbie Harry: Wie hieß das Lied von diesem phantastischen deutschen Schauspieler, den sie alle den normanischen Kleiderschrank nannten? "60 Jahre und kein bißchen weise". Ich muss den Refrain von Curd Jürgens umtiteln: "60 Jahre und kein bißchen leise", auch wenn die Knochen etwas morscher werden und meine Stimme etwas tiefer geworden ist.l MaHa: Sie kennen sich ja gut mit deutschem Liedgut aus... Harry: Na, was denken Sie! Aber im Ernst - das liegt daran, dass ich ein Filmfreak bin. Jürgens hat ja in vielen internationalen Produktionen mitgemacht - und das Lied habe ich mal auf einer Party gehört. Das klang so schräg, dass ich ubedingt wissen musste, was er da sang. Das ist ebenso trashig-genial wie Lee Marvins "I was born under a wandrin' star". Im übrigen höre ich nicht nur die großen Klassiker wie Beethoven und Wagner gerne, sondern auch deutsche Bands wie Der Plan oder Philip Boa, deren Musik mir deutsche Fans auf Tapes oder CDs schicken. MaHa: Warum gewähren Sie eigentlich so wenig Interviews? Harry: Sagen wir es mal so: Ich gebe gern Interviews, wenn ich merke, dass die Journalisten gut informiert sind und sie - wie Sie - ein ehrliches Interesse haben. Diese ganzen schrecklich auf trendy getrimmten Teenie-Postillen habe ich längst satt. Ich habe mal vor geraumer Zeit einer Frau von einer deutschen Illustrierten ein Gespräch gewährt, und sie hat mir 20 Minuten nur Fragen gestellt wie: "Welchen Lippenstift nimmst Du?" Das ist doch ziemlich öde, oder? MaHa: Die Anfänge Ihrer Karriere sind nicht nur aus dem Stoff, aus dem die Legenden gewoben sind, sondern waren auch ziemlich hart. Nach dem Split ihrer ersten Band Wind in the Willows verdingten Sie sich unter anderem als "Bunny" im Playboy-Club. Stimmt es, dass Sie in New Jersey auch eine zeitlang als Prostituierte gearbeitet haben? Harry: Eine Hure war ich nie. Als sehr junges Mädchen wollte ich Jungens kennenlernen, das war alles. Ich guckte mir auf der Straße einfach Typen aus, die mir gefielen. Aber Geld nahm ich keines - ICH wollte ja Spaß haben. Die Straße, auf der viele Jugendliche abhingen, nannte wir "Cunt Mile". Ich wollte den Titel an sich immer für einen Song benutzen. Vielleicht mache ich mal einen Rap daraus. MaHa: Apropos Rap: Sie waren die erste weiße Frau, die einen Rapsong in den Top Ten der US-Charts hievte. Harry: "Rapture", dass ich mit Blondie aufnahm, gehört heute noch zu meinen Lieblingssongs. Der Erfolg des Songs damals entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da Rap an sich ja ein chauvinistischer schwarzer Musikstil ist. MaHa: Mit Blondie jubelte Íhnen in den 1970ern nicht nur die breite Masse zu, sondern auch die New Yorker Künstler- und Intelektuellenszene... Harry: Die Fans mochten die Musik und liebten die Attitüde. Wegen solcher Leute wie Andy Warhol bin ich überhaupt nach New York gegangen. Es war damals schon aufregend für mich, ihn als aus der Kleinstadt kommende Kellnerin im damaligen Mekka für Popmusiker, dem Max`s in der Park Avenue, bedienen zu dürfen. Das er später unsere Musik und mich so verehrte, bewegt mich noch heute. MaHa: Schmeichelt es Ihnen, das bis heute noch manche Musikhörer denken, Blondie wäre ihr Künstlername? Harry: Am Anfang hat es uns alle genervt, denn Blondie war und bin ich nicht allein, sondern die ganze Band. Bis auf den Gesang teilen wir die Aufgabenbereiche. Jedes Gruppenmitglied versucht, auf einem Album zumindest einen Song zu schreiben. Ohne die Band wäre ich nie so bekannt geworden. MaHa: Die letze Platte, "The Curse of Blondie", erschien vor zwei Jahren. Wann kommt die neue heraus? MaHa: Harry: Ein Weilchen wird es noch dauern. Wir haben zwar schon einige neue Songs, stehen aber nicht mehr so unter dem Druck wie den 1970ern, jedes Jahr ein neues Album aufzunehmen. MaHa: Auch wenn Sie sich nicht vor den politischen Karren einer bestimmten Partei spannen lassen, sind Sie in den letzten Jahren vermehrt für Safer-Sex-Kampagnen eingetreten. Harry: Die Gefahr von Aids ist den Leuten längst nicht mehr so bewusst wie noch in den 1980er Jahren. Dabei steigt in gewissen Ländern wieder die Zahl der Infektionen. Es mag wie ein Klischee klingen: Safer Sex kann Leben retten und sollte uns alle angehen. Wissen Sie die meisten meiner Freunde aus der heute als "golden" apostrophierten Punk- und New-Wave-Ära sind inzwischen tot - gestorben an Drogen oder Aids. Sex ist inzwischen meine einzige Droge, und soviel Freude er mir macht, möchte ich dennoch nicht daran zugrunde gehen. Ich halte zwar von konservativen Moralaposteln genauso wenig, wie von Publicity um jeden Preis, finde aber Verantwortungsbewusstsein und Aufklärung in sexuellen Fragen unerlässlich in der heutigen schnellebigen Gesellschaft. Daher mache ich gerne bei solchen Kampagnen mit. MaHa: Neben Ihren musikalischen Projekten treten Sie auch immer wieder als Schauspielerin in Aktion. Was denken Sie war bis jetzt Ihr bester Filmpart? Harry: Ich glaube, da gibt es zwei: im eher ernsten Fach die sadomasochistische Reporterin Nicki in David Cronenbergs Science-fiction-Thriller "Videodrome", bei den Komödien hat mir natürlich die Rolle der überkandidelten Mutter einer verzogenen Tochter in "Hairspray" am meisten Freude gemacht. MaHa: Bedauern Sie es, keine eigenen Kinder zu haben? Harry: Manchmal ja, doch das Leben auf der Überholspur des Rock 'n' Roll lies dafür keinen Platz. Als es vom biologischen Standpunkt betrachtet optimal gewesen wäre, waren wir mit Blondie andauernd im Studio beziehungsweise auf Tourneen rund um den Globus. Dann wurde Anfang der 1980er Jahre unser musikalischer Kopf Chris Stein, mit dem mich eine große Liebe verband, schwer krank. Die Ärzte schrieben ihn ab, doch wir standen es gemeinsam durch, und er wurde wieder gesund. Danach war es zu spät für gemeinsame Kinder... Auch nach unserer Trennung auf der Paarebene blieben wir gute Freunde - und nun freue ich mich für ihn, dass er mit Mitte 50 gerade zum zweiten Mal Vater geworden ist. Das ist der Vorteil, den Männer gegenüber uns Frauen haben. (lacht) MaHa: Für Chris Stein, der an einem äußerst seltenen und lebensbderohlichen Gen-Defekt erkrankte, unterbrachen Sie für mehrere Jahre ihre Karriere. Die internationale Poppresse verlieh Ihnen dafür eine Art Heilgenschein... Harry: Ich bin keine Mutter Theresa des Rock. Wenn man jemand liebt, so ist es selbstverständlich, dass man sich um ihn kümmert. MaHa: Ganze Legionen wasserstoffblonder Girlies haben vergeblich versucht, ihrem Vorbild nachzueifern. Auch Madonna kopierte sie anfangs unverhohlen. Was für ein Verhältnis haben Sie zu ihr? Harry: Eigentlich gar keins. Bei ihr steht die Musik ja wahrlich nicht im Vordergrund. Sie weiß aber sehr geschickt, die Marketing-Maschine für sich zu nutzen und das zollt mir zumindest großen Respekt ab. Ich kann bestimmt nicht eine so gute Show abziehen wie Madonna, dafür treffe ich aber beim Singen meistens die Töne. MaHa: Sie wirken immer noch sehr energiegeladen. Hat ein Popstar ein Verfallsdatum? Harry: Nur wenn`s peinlich werden würde, höre ich auf. Ansonsten singe ich, bis ich tot umfalle. Das wiederum fände ich nicht peinlich, sondern konsequent. MaHa: Also keine Ermüdungserscheinungen? Harry: Nein, um kreativ zu sein, darf man weder zu dick noch zu glücklich sein. Aus dem Chaos kommen meist die besten Ideen. Außerdem muss man immer kämpfen. Leben ist Kampf. "Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren", hat Bertold Brecht einmal geschrieben. Das ist auch meine Devise. Interview: Marc Hairapetian Debbie Harry: Oft kopiert, nie erreicht. Die Traumfrau des New Wave wurde am 1. Juli 1945 in Miami geboren und wuchs bei Adoptiveltern in New Jersey auf. Mit 18 ging sie nach New York, wo sie als Kellnerin und Playboy-Bunny arbeitete. Zusammen mit dem US-Armenier Chris Stein gründete sie 1974 die Band Blondie, wobei ihr Wasserstoffblond gefärbtes Haar zum Markenzeichen wurde. Der Durchbruch gelang der Band 1978 mit dem zwischen Poppunk und Discosound lavierenden Album "Parallel Lines", das Ihnen Welthits wie "Heart of Glass", "One Way or Another", "Picture this" und "Sunday Girl" bescherte. 1982 löste sich die Gruppe auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs auf. Soloalben Debbie Harrys folgten. Mehrere Jahre unterbrach die auch als Schauspielerin erfolgreiche Debbie Harry ihre Karriere, um den schwer erkrankten Blondie-Gitarristen Chris Stein gesund zu pflegen. 1999 feierten "Blondie" ihr vielbeachtetes Comeback. 2003 erschien mit "The Curse of Blondie" das vorerst letzte Album. Bis heute lebt das Sexsymbol, ohne festen Partner, aber mit ihrem Hund in New York.