„Der wahre Horror ist die Verleugnung“

Interview mit Regisseur Atom Egoyan über seinen neuesten Film „Ararat“ (Kinostart: 22. Januar 2004) und den Genozid an den Armeniern


Von Marc Hairapetian

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Der von den Türken verübte Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 – 18 war der erste Holocaust des 20. Jahrhunderts, dem ca. 1,5 Millionen der christlichen Minderheit im Osmanischen Reich zum Opfer fielen. Der am 19. Juli 1960 in Kairo als Sohn eines Flüchtlingspaars aus Armenien geborene und in Kanada aufgewachsene Regisseur Atom Egoyan („Exotica“, „Das süsse Jenseits“) beleuchtet mit großem Staraufgebot von Charles Aznavour über Christopher Plummer bis zu Eric Bogosian als Film im Film auf verschiedenen Zeitebenen eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, dass die türkische Regierung bis heute leugnet. Auch Deutschland, das mit dem Osmanischen Reich im I. Weltkrieg verbündet war, hat von offizieller Seite den Genozid an den Armeniern noch nicht anerkannt, dafür u.a. Frankreich und nun auch am 16. Dezember 2003 die Schweiz. Der armenische Berg „Ararat“, an dessen Spitze der Bibel nach einst Noahs Arche strandete, gilt Autorenfilmer Egoyan dabei als titelgebendes Symbol für einen „Fels in der Brandung“ einer sich zum Großteil in der Diaspora befindlichen Kulturnation, die in ihrer nunmehr dreitausendjährigen Geschichte immer wieder von den Herrschaftsansprüchen fremder Völker heimgesucht wurde. In Kanada wurde „Ararat“ bereits mit fünf „Genie Awards“ ausgezeichnet, und die „New York Times“ nannte ihn den „gedanklich herausforderndsten Film des Jahres“.

Marc Hairapetian: Sie haben bei diesem Film mit Vertretern aus drei Generationen von Armeniern gedreht. Gab es Unterschiede im Umgang mit dem Thema des Völkermordes an den Armeniern?

Atom Egoyan: Das ist eine sehr interessante Frage, denn es war eine Ambition des Filmes zu zeigen, auf welchen verschiedenen Bewusstseinsebenen mit dem armenischen Genozid umgegangen wird. Die Schauspieler sind nicht nur eine Kombination verschiedener Generationen, sondern sie kommen auch aus verschiedenen Kulturkreisen. Charles Aznavour z.B., der der ersten Generation angehört und sehr engagiert ist in dieser Thematik, empfindet diese aber auch gleichzeitig mit seiner Identität als Franzose, als der er sich in erster Linie betrachtet. Eric Bogosian kommt aus dem amerikanischen Kulturkreis, und meine Frau Arsineé Khanjian ist in Beirut aufgewachsen. Jeder von ihnen hat ein anderes Bewusstsein, das er mit in das Projekt bringt. Das hat einen großen Einfluss auf den Film. Es werden dadurch verschiedene Aspekte und Sichtweisen auf den Genozid durchleuchtet. In diesen Film wurde viel Unterschiedliches zusammengefügt, das hat unheimlich viel Spaß gemacht und ist in allen Bereichen bemerkbar, bis hin zur Musik oder Architektur, die gezeigt wird. Ich habe den Film jetzt ein paar Mal gesehen, seitdem er fertig ist und finde es immer noch am interessantesten, wie all diese unterschiedlichen Aspekte zu einem Endresultat zusammenfließen.

Marc Hairapetian: David Alpay ist der jüngste unter den armenischen Darstellern. Hatte er seines Alters wegen eine größere Distanz zur Thematik?

Atom Egoyan: David Alpay ist ganz anders aufgewachsen als beispielsweise Aznavour oder auch ich und geht dadurch etwas natürlicher mit der Vergangenheit um. Für mich war es immer eine ungelöste Frage, ein Kampf, der mich permanent beschäftigte.

Marc Hairapetian: War „Ararat“ sein Debütfilm?

Atom Egoyan: Ja, er ist eigentlich Medizinstudent und hat noch niemals vorher in einem Film gespielt; dies war seine erste Rolle.

Marc Hairapetian: Ein armenisches Sprichwort laute: Man sollte verzeihen, aber nie vergessen.“
Was halten Sie vom Verzeihen und vom Vergessen?

Atom Egoyan: Im Falle des armenischen Völkermordes ist es sehr kompliziert, denn hier spielt die Verleugnung eine sehr große Rolle. Wie soll man beginnen, einem Staat zu verzeihen, der die Geschehnisse bis heute verleugnet? Es gibt immer noch einzelne Türken, die es verleugnen, und das schmerzhafteste ist, dass es viele junge Türken gibt, die nie etwas darüber gehört haben. Wie soll man mit jemanden über Vergebung reden, der nicht mal weiß, dass etwas passiert ist?

Marc Hairapetian: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zum türkischen Volk?

Atom Egoyan: Ich kenne ein paar Türken, die sehr offen mit diesem Thema umgehen und darüber reden wollen. Genau das ist mein größtes Anliegen mit diesem Film. Ich inszeniere einen Diskurs, um ihn bei dem Publikum hervorzurufen, und ich hoffe natürlich, dass auch in der türkischen Gemeinschaft das Gespräch entsteht.

Marc Hairapetian: Elias Koteas, der in „Ararat“ als türkischer Schauspieler in einem Film von dem von Charles Aznavour verkörperten armenischen Regisseur Saroyan über den Völkermord an den Armeniern mitwirkt, war großartig in seiner Rolle, allerdings ist er in Wirklichkeit Grieche und nicht Türke. Warum haben Sie ihn für diese Rolle gewählt?

Atom Egoyan: Ich wollte den besten Schauspieler für diese Rolle. Ich habe dafür auch viele türkische Schauspieler gecastet. Elias und ich haben schon in anderen Filmen zusammengearbeitet. Deshalb wusste ich, dass er der Richtige sein würde. Er ist ein sehr kraftvoller Schauspieler mit sehr viel Energie, genau das richtige um Machtgier und Brutalität darzustellen, wenn er in den Part des türkischen Befehlshabers schlüpft. Auf der anderen Seite ist er auch Ali, der friedfertige Schauspieler. Ich musste mich bei dieser Rolle auf jemanden verlassen können, der beides gleichzeitig spielen kann.

Marc Hairapetian: Die Armenier waren das erste Volk, dass das Christentum ab 301 als Staatsreligion anerkannte. Hat das eine besondere Bedeutung für Sie? Sind Sie selbst religiös?

Atom Egoyan: Ja, ich bin Christ und würde mich als religiös bezeichnen, obwohl ich keiner Gemeinde angehöre. Wo ich in Kanada aufgewachsen bin, gab es nur eine ganz kleine Gemeinschaft von Armeniern, dadurch gab es keine armenische Kirche. Natürlich spielt das Christentum eine große Rolle in der Identität des armenischen Volkes. Wir waren eine religiöse Minderheit und wurden auch für unseren Glauben verfolgt.

Marc Hairapetian: Was denken Sie über andere Filme, mit der selben Völkermord-Thematik, wie Elia Kazans „America, America“ oder Henri Verneuils „Mayrig“?

Atom Egoyan: Beides fabelhafte Arbeiten, die ich sehr respektiere, allerdings ist mir „Mayrig“ nicht so nahe, da es den Aspekt der Verleugnung ausblendet, „America, America“ ist mir mehr zu Herzen gegangen.

Marc Hairapetian: Was mochten Sie besonders an diesem Film?

Atom Egoyan: Der Film stellt das Thema der Gerechtigkeit und Gerichtsbarkeit in den Mittelpunkt. Man sieht es z.B. in der Szene, in der der Vater seinen Sohn, der aus Anatolien ins vermeintliche Land der unbegrenzten Möglichkeiten fliehen will, schlägt und dann sofort die Hand zum Kuss hinhält; solche Details sind unglaublich beeindruckend. Kazan war ein wunderbarer Regisseur, sein Tod hat mich sehr berührt.

Marc Hairapetian: Ich durfte ihn einige Male interviewen und in meinem letzten Gespräch mit ihm Anfang des Jahres 2003, sagte er, dass von der jüngeren Generation Atom Egoyan sein Lieblingsregisseur wäre. Er hatte zwar zu diesem Zeitpunkt „Ararat“ noch nicht gesehen, war aber auch daran sehr interessiert.

Atom Egoyan: Oh, Mann, das bewegt mich jetzt aber... Ich habe vor einigen Jahren eine Videoinstallation auf der Biennale in Venedig gedreht, bei der ich einen Ausschnitt aus „America, America“ nehmen wollte, und zwar den, in der die Türken die armenische Kirche abbrannten. Ich wusste, dass Kazan niemals jemanden erlaubt hatte, Teile seiner Filme zu gebrauchen, als er aber hörte, dass dieses Projekt von mir war, sagte er nur: „Selbstverständlich.“ Ich habe ihn leider nie persönlich getroffen, was mich sehr traurig macht.
Und er hat das tatsächlich gesagt? (sichtlich gerührt) Wow, das ist wirklich schön zu hören. Wie sah er aus, als Sie das letzte Mal mit ihm sprachen? Sah er gesund aus, hatte er Kraft?

Marc Hairapetian: Ja, er trat immer noch sehr kraftvoll auf, in der Erscheinung und in der Stimme. Er war ein großer Mann.

Atom Egoyan (nachdenklich): Ja, er war ein wirklich großer Mann...

Marc Hairapetian: Ist der Genozid Thema in Ihrer Familie?

Atom Egoyan: Das ist er, aber nicht im Detail. Ich bin mit dem Bewusstsein der Geschehnisse aufgewachsen, aber meine Eltern redeten nicht über Einzelheiten. Als ich achtzehn war und nach Toronto umzog, begann ich erst die Ausmaße richtig zu verstehen und realisierte dann auch erst die Verleugnung, die passierte. Ich bin nicht besonders politisch erzogen worden, dementsprechend auch nicht dogmatisch. Es gibt viele Armenier, die nichts mit Türken zu tun haben wollen, das finde ich ungerecht. Es ist nicht richtig die Kinder für etwas verantwortlich zu machen, was die Väter getan haben.

Marc Hairapetian: Wie meinen Sie, sollte man Kinder und Jugendliche an die Thematik heranführen?

Atom Egoyan: Am besten in Terminologien ihres eigenen Erfahrungshorizontes. Man könnte mit ihnen über andere Beispiele reden, wie die Ermordung der Indianer. Man sollte mit ihnen darüber reden, wie schnell es dazu kommen kann zu denken, Menschen seien weniger Wert als andere, und wie schnell es gehen kann, dass ein Volk das tut, was die Regierung ihnen sagt. Dagegen muss immer angegangen und gekämpft werden, indem man die Kinder aufklärt, was für horrorartige Ausmaße das haben kann.

Marc Hairapetian: Ihre Filme spielen oft auf verschiedenen Ebenen. In „Ararat“ z.B. spielt sich der Völkermord in einem Film im Film ab. Haben Sie sich davor gefürchtet, den Horror direkt darzustellen?

Atom Egoyan:Nein, denn der wahre Horror ist für mich immer noch die Verleugnung, und ich wollte zeigen, wie diese in der Gegenwart existiert, wie das Trauma von Generation zu Generation weiter vererbt wird. Ich wollte mit dieser Technik der verschiedenen Ebenen auch zeigen, das wir Objekte brauchen, die die Vergangenheit ausdrücken und das Geschehene für uns in die heutige Realität zu übersetzen. Dabei spielt die Kunst natürlich eine zentrale Rolle. Sie hilft uns, zu hören und zu sehen, wie zum Beispiel das Bild des Malers Arshile Gorky oder der Film von Saroyan. Diese erzählenden Objekte geben mir die Möglichkeit, das Thema von sehr vielen Seiten zu betrachten und zu analysieren. Dieser Prozess ist mir bei jeder meiner Arbeiten wichtig.

Marc Hairapetian: Der Name Saroyan erinnert an Aznavours Rolle des Edouard Saroyan in Truffauts Film, „Schießen Sie auf den Pianisten“, ist er gleichzeitig auch eine Hommage an den Schriftsteller William Saroyan?

Atom Egoyan: Es trifft tatsächlich beides zu. Nachdem „Ararat“ gedreht war, habe ich mir „Schießen Sie auf den Pianisten“ noch einmal angesehen und mir ist eine interessante unabsichtliche Parallele aufgefallen. Ich hatte ganz vergessen, dass Saroyan in der Rolle seinen Namen geändert hatte in Charles Koller. In meinem Film hat Arshile Gorky seinen ursprünglichen armenischen Namen abgelegt und damit seine Identität verwischt. Die Idee der verfälschten Identität finde ich unheimlich interessant.

Marc Hairapetian: Nachdem „Ararat“ bei der letzten Berlinale vorgeführt wurde, meldete sich ein türkischer Zuschauer, der sich dafür einsetzen wollte, dass der Film in Istanbul gezeigt werden solle. Hat sich etwas daraus ergeben?

Atom Egoyan: Leider noch nicht, der Film wurde vom türkischen Verleiher Belge zwar gekauft, sollte aber geschnitten vorgeführt werden, das möchte ich natürlich nicht. Aber wir sind noch im Gespräch; und er ist sehr interessiert daran, den Film zu zeigen.

Marc Hairapetian: In „Exotica“ und in „Ararat“ gibt es die Rolle des Zollbeamten, der diesmal von Christopher Plummer dargestellt wird. Hat er für Sie eine besondere symbolische Bedeutung?

Atom Egoyan: Ja, ich finde diesen Beruf sehr interessant. Da ist jemand, der entscheidet, ob man ehrlich aussieht oder nicht; und er hat das Recht zu bestimmen, was man mit in ein Land bringen darf. Ich war fasziniert von dem Gedanken, dass es Grenzen gibt, die man überschreiten muss und Menschen, die diese bewachen. Das hat eine unheimlich intensive Metaphorik und Wirkung auf mich.

Marc Hairapetian: Ist „Ararat“ Ihr persönlicher Lieblingsfilm?

Atom Egoyan: Das weiß ich jetzt noch nicht, da muss noch etwas Zeit vergehen, um das beurteilen zu können. Ich bin auf jeden Fall sehr stolz auf diese Arbeit. Es war ein sehr persönlicher und intensiver Prozess für mich. Ich denke; es ist der ambitionierteste Film, den ich bisher gemacht habe. Objektiv beurteilen kann ich ihn zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht. Meistens finde ich meine Filme kurz nachdem sie fertig sind sehr stark, und dann fallen mir nach und nach die Schwächen auf. Ich glaube dieses starke Gefühl am Anfang ist die Energie, die ich einfach für den Prozess gebraucht habe. Wenn Du nicht kompromisslos an deine Arbeit glaubst, hast du nicht die Kraft sie zu tun.


Das Gespräch führte Marc Hairapetian.