Rehaugen im Gesicht einer Löwin
Dramatisch war sie nur im Film: Zum Tod der großen
schwedischen Charakterschauspielerin Ingrid Thulin.
Von Marc Hairapetian
Rehaugen im Gesicht einer Löwin
Dramatisch war sie nur im Film: Zum Tod der großen
schwedischen Charakterschauspielerin Ingrid Thulin.
Von Marc Hairapetian
„Vielleicht müssten die Frauen mehr in der Wirklichkeit leben.“,
sagte Ingrid Thulin einmal, um in der ihr gegebenen resolut-analytischen Art
fortzufahren: „Weniger irgendwelche Vorbilder nachahmen, mehr sie selbst
sein. Weniger an romantische Geschichten glauben, mehr ihre eigene Geschichte
aus ihrem Leben machen.“ Der schwedischen Schauspielerin, die im Hollywood
der 50er und 60er des vergangenen Jahrhunderts als „neue Garbo“
gefeiert wurde, gelang in fast all ihren Rollen das Kunststück, wesensfremde
Charaktere zu spielen und doch sie selbst zu bleiben. Tragisch war sie nur
auf der Leinwand, bevorzugt in den tiefenpsychologischen Werken ihres Mentors
Ingmar Bergman. Dieser zeigte die von ihm am Staatstheater Malmö entdeckte
blonde Schönheit in Filmen wie „An der Schwelle des Lebens“
(1958), „Das Gesicht“ (1958), „Licht im Winter“ (1963)
oder „Schreie und Flüstern“ (1972) als Symbol von schicksalhaft
verschatteter Intelligenz und geisterhafter Blässe. Privat strahlte Ingrid
Thulin keineswegs Strenge aus. Auch im zunehmenden Alter wirkte sie mit ihren
rehbraunen Augen und den übergroßen Mund, der so herzlich lachen
konnte, wie ein übermütiges Schulmädchen. Diese sinnliche Lust
am Leben flackerte sogar in Filmen von nahezu trostloser Ernsthaftigkeit auf.
Als Paradebeispiel dafür mag das von der seinerzeit äußerst
puritanischen Presse als „Skandalfilm“ titulierte Bergman-Meisterwerk
„Das Schweigen“ (1963) gelten: Als tuberkulosekranke Intellektuelle,
die aus Eifersucht auf ihre gesunde Schwester Anna (Gunnel Lindblom) verzweifelt
raucht, trinkt und masturbiert, bewahrte sich die am 27. Januar 1926 (andere
Quellen sprechen von 1929) in Solleftea an der Grenze zu Lappland geborene
Ingrid Thulin bei aller neurotischen Verderbtheit eine gewisse erotische Unschuld.
Erstmals vor der Kamera stand die Absolventin des legenderen Dramatischen
Theaters in Stockholm in einem Werbefilm für die kommunistische Partei
mit dem bezeichnenden Titel „Fühl dich hier zu Hause“. 16
weitere Filme und einige Bühnenhöhepunkte wie die Antira in Ibsens
„Peer Gynt“ hatte sie bereits hinter sich, als sie neben dem großen
schwedischen Theater- und Stummfilmregisseur Victor Sjöström die
weibliche Hauptrolle in Bergmanns „Wilde Erdbeeren“ (1956) spielte.
Ihre darstellerische Ausdruckskraft war so nachhaltig, dass sie schnell Kontakt
zu internationalen Kinoproduktionen fand. Bereits 1955 wirkte sie in dem us-amerikanischen
Psycho-Krimi „Die fünfte Kolonne“ mit. Es folgten Vincente
Minellis „Die vier apokalyptischen Reiter“ (1961) und Alain Resnais
„Der Krieg ist aus“ (1964). Am Zenit ihres Ruhmes drehte 1964
der cineastisch angehauchte Jet-set-Playboy Gunther Sachs die Dokumentation
„Der Film, den niemand sieht“ über die „Persönlichkeit
ohne Posen“. Ein Jahr später folgte Ingrid Thulins eigenes Filmregiedebüt
„Die Andacht“.
Eine ihrer markantesten Rollen hatte sie in Luchino Viscontis zu Unrecht unterschätztem
ersten Teil seiner „Deutschland-Triologie“ „Die Verdammten“
(1968). Als Baroness Sophie von Essenbeck ist sie die treibende Kraft im gnadenlosen
Kampf um die Vorherrschaft einer Stahldynastie im Dritten Reich. Die Parallelen
zum Krupp-Konzern sind dabei unübersehbar. Zusammen mit ihrem Liebhaber
Friedrich Bruckmann (Dirk Bogarde) plant sie ihren labilen Sohn Martin (Helmut
Berger), den Erben von Titeln und Gütern, als Marionette zu benutzen,
doch sie hat ihr eigen Fleisch und Blut unterschätzt. Martin mutiert
auf seinem Weg zur Macht zum rücksichtslosen Diktator, der sich nicht
mehr scheut, seine pervertierten sexuellen Neigungen auszuleben und sogar
mit seiner Mutter schläft. Bei all ihrer Dekadenz verkraftet diese innerlich
den Inzest nicht. Doch sie muss nicht lange leiden, wird sie doch von ihrem
Filius bald darauf vergiftet, damit dieser endgültig zum unumschränkten
Herrscher des Essenbeck-Imperiums aufsteigen kann. Ingrid Thulin, die sich
für die Interpretation von unsympathischen Frauenfiguren nicht zu schade
war, charakterisierte den Part der Baranoness: „Es ist immer amüsant,
schreckliche Weiber zu spielen. Für die Baroness ist das Verlangen nach
Macht genauso groß, wie Sex zu haben. In dem Film gibt es eine Bettszene,
die wie eine Liebesromanze inszeniert ist, man sieht ihrem Antlitz jedoch
an, dass sie dabei nur an Macht denkt“.
Nach den Dreharbeiten zu „Die Verdammten“ verlagerte Ingrid Thulin,
die mit dem aus Wien stammenden Begründer des Schwedischen Filminstituts
Harry Schein verheiratet war, ihren Hauptwohnsitz nach Rom. Neben der Inszenierung
eigener Spielfilme wie „Eins und Eins“ (1978) und “Himmelbrusten“
(1982) wirkte sie noch sporadisch in italienischen und amerikanischen Film-
und TV-Produktionen mit. Zuletzt sah man Ingrid Thulin 1991 in „La Casa
del sorriso“. Letztes Jahr kehrte „die Frau mit dem Gesicht einer
Löwin“ (Filmemacher Marco Ferreri) in die schwedische Heimat zurück,
wo sie am 7. Januar 2004 in Stockholm an einem Krebsleiden verstarb.
Marc Hairapetian