Der Herr der Ameisen

Marlon Brando in „The Young Lions“ und das andere Deutschland – Zum 80. Geburtstag des Ausnahmedarstellers

Von Marc Hairapetian

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Man brauchte in den 1950er Jahren die Filme der lange Zeit im Hurrapatriotismus und im Bewusstsein der „geistig-moralischen Überlegenheit der weißen Rasse“ geradezu schwelgenden „Traumfabrik“ nicht übermäßig genau zu beobachten, um einige wesentliche Änderungen bei der Behandlung seiner Themen festzustellen. Der sehr artikulierte Kampf der farbigen amerikanischen Bevölkerung um die Rechte und die Anerkennung ihrer Rasse führte dazu, dass Schwarze die zumeist nur in untergeordneten, stereotypen oder ausgesprochen komischen Rollen erschienen, plötzlich als Protagonisten problematischer Situationen und Konflikte, wie sie damals existierten, auf der Leinwand auftauchten. Die zweite Entwicklung betraf die ehemaligen Gegner aus dem Zweiten Weltkrieg, vor allem die Japaner und die Deutschen. Ein Musterbeispiel für die differenzierte Durchleuchtung alter Feindbilder ist Edward Dmytryks epische Adaption von Irvin Shaws Roman „Die jungen Löwen“ (1958). Seine Helden sind zwei amerikanische Soldaten, ein Christ und ein Jude, und ein deutscher Offizier. Im Buch war letzterer der Typ eines vom „Übermenschen“-Rausch der Nazis völlig überwältigten jungen Mannes, der mit geradezu brutaler Anmaßung und ohne sich zu ändern durch die Handlung stürmt. In Dmytryks Film ist Leutnant Christian Diestl ein ursprünglich etwas weltunkundiger Naturbursche aus den bairischen Bergen, der von den Hitlerschen Parolen trunken, zum begeisterten Soldaten avanciert, um dann allmählich durch seine Begegnungen im Grauen der Kämpfe und Konzentrationslager zur Erkenntnis von dem Wahnsinn des Dritten Reichs und der Sinnlosigkeit des Krieges kommt.
Von Marlon Brando sehr behutsam gespielt, ist dieser Christian eigentlich ein Träumer, der in dem Moment, wo er zur letzen Wirklichkeit aufwacht, von einer feindlichen Kugel getroffen wird. Sie trifft ihn in dem Augenblick, da er sein Maschinengewehr in hilfloser Wut gerade zerschmettert hat. Die beiden Amerikaner, die ihn am Ende des Films erschießen, sind keineswegs als Siegerfiguren dargestellt. Der eine, Michael Whiteacre (Dean Martin), ist ein Broadway-Schauspieler, der zuerst auf hundert Umwegen dem Militärdienst auszuweichen sucht, der andere, Noah Ackerman (Montgomery Clift), ist Jude, der sich im Trainingslager nur mit Aufwand seiner letzten Kräfte gegen ein paar antisemitische Gangster in Uniform durchsetzen kann.
Der Film mit der in ihrem denunzierenden Marsch-Rhythmus wohl unerbitterlichsten Musik, die jemals für ein Kriegsdrama geschrieben wurde (Komponist war Hugo Friedhofer), springt von Land zu Land, von Schlacht zu Schlacht, von London nach Berlin, nach Paris, nach New York, nach El Alamein. Es ist ein Film über Menschen und nicht über Nationen, und das ist das besonders gute daran. „Die jungen Löwen“ verharmlost den Krieg nicht, hat keine Helden und kennt im Detail keine Kompromisse. Er zeigt wie Männer in den Krieg hineingezogen werden, wie sie agieren und reagieren, sich verändern bzw. zerbrechen. Mit der Rolle des Christian Diestl wollte der dafür grellblond gefärbte Marlon Brando der Welt im allgemeinen und seiner amerikanischen Heimat im besonderen zeigen, „dass nicht alle Deutschen im Krieg Monster waren“. Dies ist ihm in erschütternder Weise gelungen. Sein von der Identifikation mit dem Protagonisten geprägtes „method acting“ ist von einem darstellerischen Niveau, das seine phänomenalen Leistungen als Stanley Kowalski in „Endstation Sehnsucht“ (1951) und als Terry Malloy in „Die Faust im Nacken“ (1954) sogar noch bei weitem übertrifft. Subtil unterspielt er große Gefühle und erzeugt damit maximale Wirkung. Man sieht ihm seine Nachdenklichkeit förmlich an, wenn er den Kopf leicht zur Seite legt, um den Schmähungen einer stolzen Französin (Liliane Montevecchi) zu lauschen, die die deutschen „Kriegsgötter“ verachtet. In diesem bloßen Zuhören wird bereits der Funken einer Grenzen und Nationen überschreitenden Leidenschaft zweier junger Menschen füreinander entfacht. Sie entdeckt hinter seiner auf Haltung bedachten Fassade einen weichen, zutiefst humanen Kern. Er begreift, dass er als arrogant auftrumpfender Besatzer bei ihr keine Chancen hat. Es ist eine Szene voll unterdrückter, aber auch anrührender Erotik – und dies ausgerechnet in einem Kriegsfilm! Umso brutal-sinnloser erscheint sein Ende. Nach seiner durch die auf der Suche nach Nahrung eher zufällige Besichtigung eines KZs kommt es zur entgültigen Katharsis, doch wenig später stirbt er einsam in einem Graben, weil er noch benommen von dem schrecklichen Erlebnis auf die „Stop!“-Rufe eines US-Spähtrupps nicht reagiert. Eigentlich wollte Brando mit ausgebreiteten Armen wie eine Christus-Figur am Kreuz den Filmtod erleiden, doch davon riet ihm Regisseur Dmytryk, der sonst immer ein offenes Ohr für seinen eigenwilligen Star hatte, ab. Zur Vorbereitung auf diese Sequenz sah er sich übrigens 24 Mal hintereinander Oskar Werners Sterbeszene aus G. W. Pabst Hitler-Abrechnung „Der letzte Akt“ (1955) an.
Bei der Pressekonferenz 1958 der Centfox in Berlin verblüffte der für seine Allüren bekannte Brando die anwesenden Journalisten nicht nur mit ausgesuchter Höflichkeit (so ließ er darüber abstimmen, ob bei geschlossenem oder geöffnetem Fenster konferiert werden sollte) sondern berlinerte unter großem Gelächter fließend: „Mensch, dir haben se wohl mit der Muffe jebufft.“ Kurz darauf wurde er ernster: „Ich muss Sie darauf hinweisen, dass unser Film sich im wesentlichen von dem Roman `The Young Lions´ unterscheidet. Das Buch erschien in der ersten Nachkriegszeit, als die Karrikatur des kaltblütigen, roboterhaften und hackenknallenden Heil-Hitler-Junkers noch in aller Welt in frischer Erinnerung war. In diesem Sinn ist die Tendenz der Story nicht mehr annehmbar. Wir änderten sie erheblich. Im Roman ist Christian ein Nazi. Im Film ist er es nicht. Er ist ein Idealist, ein Mensch mit sehr klaren und geraden moralischen Vorstellungen. Er glaubt, dass die alte Welt in immer neue Kriege gestürzt wird, wenn Europa sich nicht endlich zusammenschließt. Christian ist in seinem Charakter unbeeinflussbar. Er bleibt ohne Konzessionen und immer moralisch bis zu seinem tragischen Ende. Im Roman wurde er unmoralisch und unmenschlich. Auf der anderen Seite fand ich den Charakter des amerikanischen Soldaten, eines jungen Juden; im Roman maßlos idealisiert.“ Und dann fügt er lakonisch hinzu: „Und obwohl ich das alles auch dem Autoren Mr. Shaw bereits gesagt habe, werde ich meine Zimmertür heute nacht wohl abschließen müssen, falls Mr. Shaw mir mit einer Schrotflinte nachstellt.“
Bis heute nennt man Marlon Brando den Mann, der es liebt, Hollywood zu hassen. Der am 3. April 1924 in Omaha/Nebraska geborene Sohn eines Farmers und einer als dominant beschriebenen ehemaligen Schauspielerin ist ein einziges Paradoxum . Normal an ihm ist nur, dass er sich nie „normal“ gibt und die Filmemetropole als eine „Affenkotze in Aspik“ beschreibt. Wenn Marylin Monroe das Fabeltier Hollywoods war, so ist Brando der Salamander; er vermag sich so tot zu stellen, dass man glaubt, er sei wirklich tot. Warum lässt er heute noch alle Herzen schneller schlagen, die Frauen in Entzücken geraten und die Studiogewaltigen an Magengeschwüre denken? Die Exzesse der „wandelnden Hormonfabrik“ sind legendär. Man erzählte sich Geschichten, wie Brando Melonenkerne gegen die Wand spuckte und sich mit der Behändigkeit eines Gorillas den Brustkasten kraulte. Wegen des Gestanks seines Lieblingswaschbären wollte lange Zeit kein Besucher zu ihm kommen. In jungen Jahren war er auf Proben unausstehlich: Er setzte sich hin oder schlief auf dem Fußboden, so dass den anderen Schauspielern und Stabgliedern nichts anderes übrig blieb, entweder die Wut zu schlucken oder sich gegenseitig Gemeinheiten zu sagen. „Warum soll ich mein Benehmen verteidigen?“, fragte Brando einmal hitzig zurück. „Die Menschen verstehen einen sowieso nicht. Die Fügsamkeit ist der Brutkasten der Mittelmäßigkeit. Warum soll ich mein Privatleben einem Protokoll unterordnen?“ Sein im letzten Jahr verstorbener Freund und Förderer Elia Kazan, der mit ihm „Endstation Sehnsucht“, „Viva Zapata“ und „Die Faust im Nacken“ machte, bezeichnete ihn dennoch als „sanften Mann“.
Nach seinem Debüt als im Rollstuhl sitzender Kriegsveteran in der Stanley-Kramer-Produktion „Die Männer“ avancierte der ehemalige Erwin-Piscator-Schüler mit „Endstation Sehnsucht“ und „Der Wilde“ (1953) als gutaussehender Kotzbrocken zum „eversexed guy“ im engen T-Shirt., der ohne präzisen Grund alles und jeden verachtet – insbesondere Tugenden und Frauen – und gerade dadurch unwiderstehlich wird. Außerdem war da noch sein Stammeln und Nuscheln (im Deutschen kongenial von Harald Juhnke synchronisiert), womit er den Regeln der klassischen Sprechausbildung zuwider handelte. Später verlieh er gebrochenen-dämonischen Charakteren Profil wie dem größenwahnsinnigen Dschungel-Despoten Oberst Kurtz in Coppolas auf Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ basierendem Vietnamdrama „Apocalypse Now“ (1976 – 79). Unvergesslich auch in „Der letzte Tango in Paris“ (1973) sein Paul, der sich nach dem Tod der Frau auf eine rein sexuelle Liason mit einem jungen Mädchen einlässt: Von einem Pistolenschuss getroffen, nimmt er mit einem unnachahmlich gequälten Grinsen ein Kaugummi aus dem Mund, klebt es unter ein Geländer und bricht zusammen.
Der Prototyp des amerikanischen Rebellen, den sich Generationen von Schauspielern von James Dean bis Al Pacino als Vorbild auserkoren, brachte Dutzendweise Regisseure zur Verzweiflung: Stanley Kubrick stieg 1959 nach einjähriger Vorbereitung beim Psychowestern „Der Besessene“ (1959) aus, so dass ihn Brando selbst vollenden musste. Mit Bernhard Wicki wäre es bei „Kennwort: Morituri“ beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen. Und bei seiner Sterbeszene in dem lange unterschätzten, darstellerisch wie auch optisch und musikalisch allerdings überragendem Remake von „Die Meuterei auf der Bounty“ (1961) bestand er gegenüber Lewis Milestone darauf, auf einem Bett aus Eisblöcken zu liegen, weil er wie er sagte, nur so glaubhaft zittern könnte. Inzwischen ist er ein liebeswert-besonnener Kollege, der Parties für die Crew gibt, Rolexuhren verschenkt und die Anwesenden am Set mit kleinen Zaubertricks unterhält.
Der begeisterte Tierfreund und Familienvater (er hat neun leibliche und zwei adoptierte Kinder) lässt sich heute nur noch selten in der Öffentlichkeit sehen. Entweder lebt er auf dem von ihm 1963 erworbenen Inselatoll Teti´aroa oder in einer von der Außenwelt abgeriegelten Zwölf-Zimmer-Villa am Mulholland Drive – die Folge einer ganzen Kette von Tragödien in seinem Leben, an denen ihn wohl auch ein nicht unerheblicher Teil der Schuld trifft. Fünf ehemalige Freundinnen und seine über alles geliebte Tochter Cheyenne begingen Selbstmord. Eine Ex-Frau versuchte, sich das Leben zu nehmen. Eine Schwiegertochter fand bei einem Verkehrsunfall den Tod. Sohn Christian verbüßte wegen Ermordung des Freundes seiner Schwester Cheyenne eine fünfjährige Haftstrafe.
Mit wenigen Ausnahmen hält der mittlerweile schwergewichtige Akteur (zwischen 120 und 190 Kilogramm bringt er auf die Waage) nicht viel von der Filmerei: „Rembrandt, Beethoven, Shakespeare und Rodin waren Künstler.; Schauspieler sind die Arbeiterameisen in einem Business, und sie rackern sich für Geld ab. Der größte Schauspieler der Welt ist mein Hund. Wenn er Hunger hat, tut er so, als ob er mich liebt.“ Er mag sich selbst als gewöhnliche Ameise betrachten – für unzählige Kollegen und Kritiker ist er immer noch der „Herr der Ameisen“. 1995 wurde er vom Magazin „Time out“ als „bester männlicher Darsteller in der 100jährigen Geschichte des Films“ ausgezeichnet. Die Abneigung gegen seinen Beruf mag sich darin erklären, dass er sich des Gefühls nicht erwehren kann, es wäre als erwachsener Mensch unwürdig, ständig in die Haut anderer zu schlüpfen. Brando, der 1994 in Zusammenarbeit mit Robert Lindsay eine schonungslose Autobiographie verfasste: „Es ist ein Zeichen von Reife, wenn man diesen Beruf aufgibt “ Deswegen steht er nur noch ab und an vor der Kamera. Mut zur Selbstironie bewies er als Psychiater in „Don Juan DeMarco“ (1995) oder als alternder Einbrecherkönig an der Seite von Edward Norton und Robert de Niro in „The Score“ (2001). Großteile seiner enormen Gagen (für seinen Miniauftritt als Vater von „Superman“ erhielt er 1978 sage und schreibe 1,85 Millionen Dollar pro gefilmte Minute!) lässt er wohltätigen Stiftungen, Menschenrechts-Bewegungen und antirassistischen Aktionen zukommen. Seinen zweiten Oscar für den von ihm grandios verkörperten „Paten“ nahm er 1973 wegen der klischeehaften Darstellung der Indianer in Hollywood-Filmen nicht an.
Auf seinem Inselparadies im Südpazifik finanziert er mit Millionen von Dollar die Erforschung neuer Energiegewinnung. Mit Unterwasserkulturen versucht er, der Ernährungsmisere beizukommen. Es ist sein Rückzugsgefecht mit der Welt. Aber er wird es bestimmt verlieren. Wenn er auch kurz angebunden verkündet, dass er nur schlafen und sich auch noch mit nunmehr 80 Jahren vermehren wolle, so wird man ihm kaum die Möglichkeit bieten, sich ausschließlich diesen beiden Dingen zu widmen. Das Rätsel bleibt ungelöst. Dieser Mann verteidigt sein inneres Ich. Und wenn er auch laut sagt: „Ich weiß bis heute nicht, ob ich Schauspieler werden will“, so kann man darauf nur antworten: „Es ist auch gar nicht nötig, ob er es weiß oder nicht.“

Marc Hairapetian